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Warum mein Vater doch noch in die NSDAP eingetreten ist
Was hätte er anders tun sollen?
von Franz Josef Blümling
Die NSDAP: (National-Sozialistische-Deutsche-Arbeiterpartei mit Hitler an der Spitze) war in der Nazi-Zeit die alleinige Partei und hatte u. a. das Ziel, „ … alle Juden aus Deutschland zu entfernen“. Sie zählte Ende der Hitler-Diktatur 8.5 Mitglieder. Die Alliierten verboten sie im September 1945 und erklärten sie als verbrecherische Organisation. Bis 1941 war mein Vater, Josef Blümling, nicht in der Partei und hatte dafür auch seine Gründe.

Zur Vorgeschichte zu dieser Ausarbeitung: Mein Großvater Peter Blümling war mit seiner Familie nach Argentinien ausgewandert. Seine Frau, meine Großmutter Barbara, betrieb in einer Urwaldsiedlung ein Lebensmittelgeschäft. Peter verunglückte tödlich, Er war unterwegs mit einer Ochsenkarre, die mit Zuckerrohr beladen war. Bei der Überfahrt auf einer Fähre auf dem Rio Paraná trat ein Sturm auf, und die Fähre versank mit allen Passagieren. Barbara war schwanger und hoch verzweifelt. Sie wollte unbedingt wieder an die Mosel in ihren Heimatort Neef – und zwar vor der auf sie zukommenden Geburt. Sie verkaufte alles was sie hatte – insbesondere die Vorräte in ihren Laden. Der Erlös reichte gerade aus, um die Rückfahrt im billigsten Unterdeck eines Schiffes, wo auch das Vieh untergebracht war, zu bezahlen. Barbara kam hochschwanger und bettelarm im Jahr 1892 mit 4 Kindern nach Neef zurück. Dort gebar sie am 2.11. gleichen Jahres meinen Vater Josef als fünftes Kind, Alleinversorgerin Barbara war dringend auf die Hilfe ihrer Mitmenschen angewiesen. Gutgesinnte Neefer stellten ihr vorerst eine kostenlose Unterkunft zur Verfügung. Sie zweigte einen kleinen Raum ab, in dem sie wieder einen Lebensmittelladen betrieb. Dabei benötigte sie die Hilfe von Lieferanten, die auf Kredit anlieferten. Wenn zumindest ein Teil der Waren mit einem angemessenen Aufschlag verkauft waren, wurden die offenen Rechnungen beglichen, Große Hilfe erhielt sie in dieser Situation von dem Metzger Julius Kahn, Jude in Bullay. Dazu ein Auszug aus dem Tagebuch meiner Tante, Schwester Verenosa (Maria Blümling), Nonne in Dernbach, das die Auswanderung und die Rückkehr in einem Tagebuch festhält:

Beim jüdischen Metzger Julius Kahn aus Bullay kaufte Mutter Schweinefüßchen und Kalbsköpfe. Daraus machte sie Sülze. Das konnte sie preiswert und doch mit gutem Profit verkaufen. Auch Ziegenfleisch war beim Herrn Kahn billig und kostete 40 Pfennig das Pfund. Rindfleisch kostete 60 Pfennig. Metzger Kahn war sehr gut zu uns. Er gab uns stets Sonder-preise, da er wusste, wie gut er uns damit helfen konnte. Er machte sogar Vorschläge, wie hoch der Wiederverkaufspreis anzusetzen war. Herr Kahn war ein ganz frommer Jude. Josef, mein jüngster Bruder, war vom Jude Julius Kahn ein spezieller Freund. Wenn Sabbat war, richtete er sich streng an die Vorschriften seines Glaubens. Dann durfte er zum Beispiel kein Feuer anzünden, keine Arbeiten verrichten, zu denen er irgendein Werkzeug benötigte. Es war außerdem verboten, am Sabbat etwas zu kaufen oder zu verkaufen. Und um das Nötigste zu verrichten, fuhr Josef mit der Bahn nach Bullay und stand der jüdischen Familie zu Diensten. Er wurde schon fast fürstlich belohnt, wovon Mutter natürlich immer partizipierte. Der Jude Kahn war wirklich ein guter Mensch. So kaufte er den Leuten schon mal für gutes Geld eine alte Kuh zur Schlachtung ab, oder gab einen Tipp, wo man ein gute junge Kuh günstig kaufen kann.“

Zu Julius Kahn und seiner Familie: Julius Kahn eröffnete mit seiner Frau Emma 1913 eine Metzgerei in Bullay und hatte dazu in der Bahnhofstr. 127 (heute Nr. 6) ein Wohn- und Geschäftshaus mit Stallung und Schlachthaus erbaut. Gleich zu Beginn des ersten Weltkrieges wurde er eingezogen. Nach mehreren Verwundungen und ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz starb er am 13. Oktober 1918 infolge seiner Kriegsverletzungen. Frau Kahn, mit 33 Jahren Kriegerwitwe, stand am Kriegsende nun allein da mit ihren drei minderjährigen Söhnen, Hans 11, Walter 8 und Ernst 5 Jahre alt. Erschwerend für Emma war eine hohe Hypothek auf das Haus. Vorgesehen war, dass einmal der älteste Sohn, Hans, die Metzgerei übernehmen sollte, der daraufhin kein Studium begann. Ein Vetter von Julius Kahn, Norbert Voss aus Embken, kam von seinem Einsatz im Krieg gesund nach Hause. Im Jahr 1919 kam er nach Bullay um im Metzgerbetrieb zu helfen. Er war praktisch ein Mitglied der Familie bis zur Geschäftsaufgabe im Jahr 1937. Bis dahin belieferte die Metzgerei Kahn auch das Lebensmittelgeschäft meines Vaters, der dieses von der verstorbenen Mutter Barbara übernommen hatte.
Die Bullayer Juden waren im dörflichen Geschäfts- und Vereinsleben integriert. Das Zusammenleben mit den christlichen Einwohnern war, zumindest an der Oberfläche, harmonisch und nachbarschaftlich. Wurde im Ort ein Kind geboren, dann schickte Frau Kahn der Wöchnerin kräftige Wurstsuppe ans Kindbett. Die Söhne von Kahns waren im Sportverein und im Kegelclub aktiv und mischten mit im Skat-Klub. „Wir drei Söhne sind aufgewachsen mit den Kindern von Stadtfelds. In vielen schönen Abendstunden haben Dorfkameraden, Sportfreunde und Kegelbrüder bei uns gezecht und – auf Rechnung des Hauses – Wuuscht und Gehacktes gegessen“, schreibt Walter Kahn aus den USA

Der Beginn einer schlimmen Zeit: Sie begann gleich nach der Machtergreifung durch Hitlers Nazipartei. Durch den Erlass der Nürnberger Gesetze im Jahr 1935, auch Rassengesetze oder Ariergesetze genannt, hatten die Nationalsozialisten eine juristische Grundlage, einen radikalen Antisemitismus zu verwirklichen. Im August des gleichen Jahres stand in der Presse: „Bullay erkennt die Judengefahr“. An einer anderen Stelle heißt es: „Die Bevölkerung von Bullay will, daß unser schöner Ort judenfrei wird.“ Jude war, wer von jüdischen Großeltern, bis hin zur vierten Generation, abstammte – auch wenn diese zum Christentum konvertiert waren. Wer zwei jüdische Großeltern hatte oder mit einem Juden verheiratet war, galt als „Geltungsjude“. Eheschließungen und Sexualbeziehungen zwischen Juden und Nichtjuden wurden durch das Gesetz unter Strafe gestellt. Die genossene Harmonie innerhalb der Bullayer Bürgerschaft war dahin. Dorfkameraden, Sportfreunde, und Kegelbrüder hielten sich nun zunehmend fern, und so mancher frühere Spielgenosse war nun Parteigenosse geworden und grüßte nicht mehr. Die Welt hatte sich total verändert. Die Stimmung wurde immer bedrohlicher. Plötzlich standen SA-Posten vor der Metzgerei und gaben die Parolen aus „Kauf nie bei Juden!“ – „Wer beim Juden kauft stielt Volksvermögen“ – Vorgänge, die sich im ganzen Reich ausbreiteten. In einer Nacht schmiss man die Schaufenster in Kahns Laden ein. Maria Arenz aus Bullay durfte als Arier in der Metzgerei nicht weiter arbeiteten. Als sie jedoch weiterhin der Arbeit nachging, wurde sie als „Judenweib“ von einem „tapferen Volksgenossen“ angezeigt und von der Polizei verhört. Sie wurde zum Amtsgericht nach Zell geordert, sah sich dort Polizeiwachtmeistern aus Bullay und Umgebung gegenüber und mit einem Verhör konfrontiert. Sie gab kurz darauf die Stelle auf.

ie Reaktion der meisten Juden in Deutschland auf solche Diskriminierungen war die Emigration. Zwischen 1933 und 1938 betrug der Bevölkerungsrückgang der Juden im Reich 57,4%. Im Kreis Cochem-Zell ging der Anteil der jüdischen Bevölkerung im gleichen Zeitraum von 413 auf 209 Personen zurück.

Auch Norbert Voss emigrierte mit seiner Familie gleich nach der Geschäftsaufgabe im Jahr 1937 in die USA. Das Wohn- und Geschäftshaus wurde zuvor an den Nachbarn Stadtfeld verkauft, mit denen man stets gut ausgekommen war. Sehr ungern verließ die Familie die Heimat, jedoch ließ die Entwicklung unter der NAZI-Herrschaft weitere schlimme Maßnahmen vorhersehen, was dann auch so eintraf. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, in der sogenannten Kristallnacht, wurden vom nationalsozialistischen Regime organisierte und gelenkte Gewaltmaßnahmen gegen Juden im gesamten Deutschen Reich ausgeübt. Über 1.400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume sowie tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden zerstört. Am 20. Januar 1942 hatte, unter dem Vorsitz von Heydrichs, die berüchtigte „Wannsee-Konferenz“ stattgefunden, bei der es um die „Endlösung der Judenfrage“ ging.

Meinem Vater berührte das Geschehen um die jüdische Familie in Bullay zutiefst: Er hatte bis zuletzt eine enge Verbindung zur Metzgerei Kahn - betrieben nunmehr von Norbert Voss. Dies wurde Vater als Judenfreundlichkeit vorgeworfen wurde. Vater kochte vor Wut und prangerte Hitlers Rassenwahn öffentlich an. „Wo sind die Juden, die sich auf dem Bullayer Bahnhof ansammeln und in Waggons abtransportiert wurden? Wir wissen doch, was mit ihnen geschieht! Keiner sagt was!“

Die weitere Entwicklung: In der Wohnung der Bullayer Juden Gustav und Lina Harf hatten sich einen Tag vor dem Abtransport weitere Juden aus der Moselumgebung und vom Hunsrück eingefunden. Sie alle verbrachten die Nacht dort und wurden am nächsten Morgen auf ein Pferdefuhrwerk verfrachtet und von Polizeibeamten und Parteigenossen zum Bullayer Bahnhof eskortiert, wo sie auf den von Trier kommenden Sammeltransport „verladen“ wurden. Dabei war auch das ältere Ehepaar Harf. Der Zug fuhr geradewegs in Vernichtungslager Theresienstadt. Von dort aus wurden die Harf’s weiter nach Minsk in Russland deportiert wo sie „umgekommen“ sind, wie es ein kurzer Eintrag vermerkt.

Vaters Einstellung führte zu einer Anzeige und zum Eintritt in die NSDAP: Vaters Einstellung zu Hitlers Rassenwahn und auch dessen Kriegspolitik war empörend. „Er führt gegen die ganze Welt Krieg, den er nie gewinnen kann. Und Juden sind Menschen wie wir alle. Hitler ist verrückt!“ Er kannte die redlichen und ehrlichen Kahns in Bullay seit seiner Kindheit an. Sie waren ausgesprochen gute Menschen. Vater äußerte seine Meinung über Hitler in aller Öffentlichkeit, insbesondere in seinem Laden. Er grüßte nicht mit "Heil Hitler", hisste keine Hakenkreuzfahne und war auch nicht in die NSDAP.
Vater wurde wegen seiner Einstellung angezeigt und hatte sich 1941 vor dem Amtsbürger-meister in Zell zu verantworten. Eine Vorladung beim Amtsgericht hatte Josef Scheid aus Neef abgefangen. Er war Bürgermeister des Amtes Zell-Land und Skat-Freund meines Vaters. Bei einer behördlichen Verhandlung in seinem Zeller Büro gab er Vater den dringenden Rat, sich nach den Geschehnissen der Zeit zu richten und seine öffentliche Äußerungen über Hitler zu unterlassen. Schließlich habe er (Vater) eine große Familie zu ernähren (Wir saßen zu Neunt am Essenstisch) und hätte dafür die Verantwortung zu tragen.

Vater kam sehr gedrückt nach Hause. Er hisste von nun an die Hakenkreuzfahne, trat in die Partei ein und grüßte auch mit „Heil Hitler“ – wenn auch verhalten. Dies hatte er schließlich so versprochen. Und so kam er nicht in ein Konzentrationslager, was zu befürchten war und für die Familie eine Katastrophe gewesen wäre. Dass es solche Einrichtungen gab, war längst durchgesickert. Aber darüber sprach man nicht.

Im Innern blieb er jedoch bei seiner Meinung über Hitler. Er hörte täglich heimlich über unseren Volksempfänger (nur wenige Bürger hatten zu jener Zeit ein Radio – einen Volksempfänger) die englischen Nachrichten über BBC und erfuhr, wie unaufhaltsam die Alliierten näher rückten. In Erinnerung ist dem Autoren noch, wie die damalige Lehrerin, Frl. John, öfters mit hörte. Das Gerät war ganz leise eingeschaltet. Vater und Frl. John drückten ihr Ohr an den Empfänger. Wir Kinder durften darüber nie etwas erzählen. „Schwarzhören“ war strengstens verboten. Darauf stand sogar die Todesstrafe.

Vater sollte mit seiner Meinung Recht behalten und sein Verhalten war nicht einmalig – auch nicht sein Eintritt in die NSDAP. Viele deutsche Bürger dachten so wie er und verhielten sich letztlich auch so. Und darunter war auch der sein Freund Josef Scheid. Er war übrigens schon länger als Vater in der NSDAP. Ansonsten wäre er nie Amtsbürgermeister geworden und auch nicht geblieben. Was hätte Vater anders tun sollen? So verhielt sich auch der Fabrikant, Oskar Schindler, um ein anderes Beispiel zu nennen. Als die Brutalität des Holocaust Krakau erreicht, riskiert er nicht nur sein Vermögen, sondern auch sein Leben um seine Arbeiter vor der Deportation zu bewahren. Und auch er war Mitglied in der NSDAP.

Das Ende der NSDAP: Sie zählte am Ende der Hitler-Diktatur 8.5 Mitglieder. Die Alliierten verboten im September 1945 die Partei und erklärten sie als verbrecherische Organisation.

 
 
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Josef Blümling – Foto aus eigenem Archiv des Autoren
 
 
Grabstein des Julius Kahn auf dem jüdischen Friedhof in Bullay
Aufnahme vom Autoren
Literaturnachweise:
  www.naves-historia.de unter 42. dort 14
Schleindl, Angelika, Spuren der Vergangenheit, Jüdisches Leben im Landkreis Cochem-Zell, S. 28, 32, 164, ff.
Landesarchivverwaltung Rheinland Pfalz, Koblenz, Bestand 856, Nr. 260415
Bildnachweise:
   
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